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#23 - Über Zeit

Ich weiß noch, als ich mit 14 Jahren dachte: „Puh, noch vier Jahre bis zum Führerschein.“ Diese vier Jahre schienen damals Lichtjahre entfernt. Zwischen diesem Gedanken und dem Schreiben dieses Blog-Beitrages liegen nun 21 Jahre. Einundzwanzig Jahre! WTF! Den Führerschein hab ich dann trotzdem erst mit Zwanzig gemacht und mir am Tag nach der erfolgreich bestandenen Führerschein-Prüfung gleich mal das Bein verknackst. Spaltgips. Absolutes No-Go. Ich hab ihn mir nach einer Woche nehmen lassen, denn ich wollte Autofahren. Immerhin hatte ich darauf ja so lange gewartet.

Wo bist Du also hingekommen, Du liebe Zeit? Ich habe manchmal das Gefühl, Du zerläufst mir in der Hand. Rieselst wie Sand durch meine Finger. Manchmal fühlt es sich auch so an, als könnte ich Dich gar nicht greifen, weil Du ganz schön flott unterwegs bist.
Mir ist aufgefallen, dass ich oft gar nicht mehr weiß, was wann passiert ist. Weil alles so schnell vergeht und dann vom nächsten Ereignis überholt wird. Ich komm da heute ehrlich gesagt gar nicht mehr richtig mit. Bewusst ist mir das geworden, als ich meinen Blog-Beitrag über das vergangene Jahr 2016 geschrieben habe. Ich musste tatsächlich auf meinen analogen bzw. digitalen Kalender zurückgreifen. Und, auch meine Facebook- und Instagram-Timeline mussten als Gedächtnisstützen herhalten.

Als ich kürzlich in Sri Lanka war, hatte ich erst den Eindruck, dass die Zeit langsamer laufen würde. Damit ich ja alles aufsaugen und erfassen kann. Als ich aber dann meinen Rhythmus gefunden hatte, war alles wie immer. Die Zeit entglitt mir und die Tage vergingen schneller als ich Hallo, wie geht’s auf Singhalesisch hätte sagen können. Das hat mich dazu bewogen, die eine oder andere Destination auszulassen und es gemächlich anzugehen. Ich wollte nicht hetzen, ich wollte wie ein Schwamm sein. Alles aufsaugen, erleben, Zeit haben die Eindrücke und Abenteuer zu verarbeiten. Ich wollte genießen und ganz im Hier und Da sein. Ich hatte das Bedürfnis nicht an die Zeit zu denken sondern mich in ihr zu verfangen. Ich entschied mich treiben zu lassen.

Eigentlich versuche ich das ganze Jahr über in Wien, meine Wege mit dem Fahrrad zurück zu legen. Aber dann klappt das doch nicht immer und ich bin bequem. Greife auf das breite Angebot der Wiener Linien zurück und lasse mich liefer chauffieren als selbst zu strampeln. Wenn ich dann also so im zum Beispiel 13A-Bus sitze beobachte ich die anderen Fahrgäste. Also jetzt nicht auf eine gespenstische Stalker-Art, sondern eher als würde ich fernsehen. Alle sind so super hektisch. Schauen in ihre Smartphones, tippen darauf herum oder telefonieren laut und übereifrig. Die Straßenbahnen, Buslinien oder U-Bahnzüge werden nicht als Ort möglichen Abschaltens gesehen, hier wird nervös weitergemacht. Jeder ist hyperaktiv und in einer anderen Welt. Fern seiner eigentlichen Umwelt. Keiner nimmt sich Zeit, mal abzuschalten und für ein paar Stationen alles ruhig sein zu lassen. Und hier ist die Wurzel des Übels: Keiner nimmt sich mehr Zeit. Nicht für die kleinen und manchmal auch nicht für die großen Dinge. Keiner hält mehr inne und wird still. Bricht aus dem zeitgetriebenen Hamsterrad aus und lässt Alles mal gut sein. Nur für einen Moment Ruhe. Wir gönnen uns viel zu wenig ein Zeitfenster absoluter Stille oder Stressfreiheit. Wir sind getriebene Duracell-Häschen in einem Perpetuum mobile.

Damit wir vielleicht ein paar Momente mehr Zeit täglich haben, produziert die Kosmetikindustrie 48-Stunden Deos und Body-Lotions, Fertiggerichte und Online-Shopping. Und die Liste an möglichen Zeiteinsparungs-Tools wird laufend länger. Aber unser Zeitfenster dadurch nicht größer. Denn wir machen es uns nicht mit Freunden oder der Familie gemütlich oder lesen ein Buch oder machen einen Abendspaziergang. Wir nutzen diese als Mehr-Zeit getarnte Zeit aber nicht für diese gemütlichen Dinge. Wir hetzten weiter. Immer weiter.

Was muss also passieren, dass wir uns wieder Zeit nehmen? Dass wir unsere Smartphones und Co abschalten, liegen lassen und streunen gehen. Unsere Umwelt auf den Kopf stellen und an der Uhr drehen? Ich habe für mich entschieden, mich auf die Zeit einzulassen. Ich laufe dem Bus nicht hinterher, wenn er mir vor der Nase wegfährt. Ich warte auf den nächsten. Ich steige manchmal ein paar Stationen auch früher aus und gehe das letzte Stück. Ich deaktiviere die mobilen Daten auf meinem Handy und geh ein wenig auf Tauchstation. Ich schmeiß auf der Autobahn den Tempomat bei 135 km/h rein und reihe mich am rechten Fahrstreifen ein. Ich trinke meine Tasse Kaffee außer Haus und verbinde sie nicht mit Zuhause Wäsche falten oder Emails abrufen. Ich nehme mir die Zeit, sie außer Haus zu trinken und die Umgebung auf mich wirken zu lassen. So wie jetzt. Dieser Blog-Beitrag entsteht bei einer Fritz-Kola im wunderbaren Brass Monkey in Wien-Mariahilf.

Für mich ist es gerade etwas einfacher, mir Zeit zu nehmen. Ich bin selbstständig und die Projektliste ist nicht allzu lange. Ich habe etwas gebraucht, um an diesen Punkt zu kommen, mich nicht um jedes Projekt zu reißen. Genau gesagt, habe ich für diese Erkenntnis vier Jahre, ein (emotionales) Burnout, eine Shiatsu-Behandlung und viel Selbstreflexion benötigt. Aber ich bin dennoch an diesem Punkt angekommen. Weil ich mich entschieden habe, die Zeit, die nicht in meinen Fingern zerlaufen zu scheint, zu nutzen. Für mich, für all die wunderbaren Menschen und schönen Dinge. Und wenn ich in 21 Jahren vielleicht diesen Beitrag nochmals lese, kann ich in einem reichhaltigen Gedankenkatalog voll wunderschöner Momente zurückblicken, für die ich mir bewusst Zeit genommen habe.

PS Dieser Blog-Beitrag wurde am 20. Februar verfasst. Ich muss mich selbst rügen, denn erst heute am 20. März habe ich mir Zeit genommen, ihn zu korrigieren und zu veröffentlichen.