#46 - Wertschätzung für 2020
Vielleicht ist es einfach die Tiroler Bergluft die mich und meine Gedanken beflügelt oder einfach der Fakt, dass ich die ganzen Postings in den Social Media, die Kommentare und Artikel, die das Jahr 2020 dissen nicht stehen lassen möchte.
Ich verstehe nicht, warum jeder dem Jahr derart heftig den Mittelfinger zeigt. Das Jahr kann sich nicht verteidigen, also starte ich einen schüchternen, jedoch keinesfalls missionierenden Versuch.
Wie wohl jedes Jahr, das die Seite für ein neues Jahr aufschlägt, ist jeder von uns in das vorangegangene mit vielen Ideen, Träumen und Zielen gestartet. Dann vergingen die ersten Tage, die ersten Wochen und mit ihnen breitete sich das Virus über den Globus aus und brachte Unsicherheit. Dann kam der März und die ersten Länder gingen in den Lockdown. Es folgten Hamsterkäufe, Home-Office, Home-Schooling und die Frage, wie wird die Gesellschaft das alles ertragen. Gar überleben.
Aus der Sicht einer am Land lebenden damals 37-jährigen Single-Frau versuche ich das Ertragen zu skizzieren. Retrospektiv betrachtet war ich wie meine Uroma, die ich wie folgt erinnere: sie saß mit einem dicken Kissen unter den Armen an ihrem Küchentisch und schaute aus dem Fenster. In dieser beobachtenden Haltung verbrachte sie eine Vielzahl an Stunden. Zu jeder Jahreszeit, bei jeder Wetterlage. Mein Beobachten in den Tagen des Lockdowns war ein Genießen. Ich hatte keinen Stress, machte mir keine Sorgen und konnte mich der Situation völlig hingeben. Natürlich wäre alles anders gewesen, wenn mein Plan von den vier Kindern in den Jahren davor aufgegangen wäre. Dann hätte ich vermutlich auch mit Stundenplänen und Co jonglieren und mich weitestgehend anpassen müssen. Mich regelmässig abgrenzen müssen, um nicht ganz Banane im Kopf zu werden. Oder auch, wenn ich 2017 nicht entschieden hätte, Mietwohnung in Wien gegen mietfreies Dachgeschoss im Haus meiner Mama zu tauschen. Vom finanziellen Druck, den das Unternehmertun mit sich bringt, blieb ich verschont. Als Single-Frau hätte ich dennoch an der Situation verzweifeln können. Tagein, tagaus allein mit den Gedanken. Breakfast for one, Lunch for one, Dinner for one. So viel Zeit mit mir und meinen Gedanken hatte ich bisher bewusst nur auf meinen Reisen verbracht. Jeder, den die Wucht der Anpassung getroffen hat, der nicht aufgegeben und sich Momentaufnahmen der Verzweiflung nicht hingegeben hat, sei hiermit als Hero ausgezeichnet.
Wenn du am Land lebst, umgeben von Natur, dann kann dir schwer die Decke auf den Kopf fallen.
Ich habe mich täglich bewegt und der Gesamtsituation eine sehr große Portion Gutes abgewonnen. Auch wenn ich in meinem Tun und Schaffen etwas beschränkt wurde. Ich habe dies aber nie als etwas gesehen, dass gegen mich ist. Ich habe es als Chance gesehen, um zu reflektieren, zu sortieren, zu hinterfragen und um einfach zu sein. Die Seele durch den Tag bummeln lassen, meinen Geist in eine Hängematte gelegt und zugesehen, was passiert. Dankbar die kleinen Geschenke angenommen.
2020 war gut, weil
... es gezeigt hat, dass es keine Staaten benötigt, die sich gegenseitig den Krieg erklären, um uns als Gesellschaften zu treffen. Ein Virus reicht.
... es sichtbar gemacht hat, was wirklich zählt: das Miteinander, ein soziales Gefüge.
... es verdeutlicht hat, wie sehr wir abhängig sind und der cold turkey sogar schon reinkickt, wenn das Toilettenpapier im Regal vergriffen ist.
... es uns spüren hat lassen, das die Natur stärker ist als wir. Und wir die Natur brauchen, die Natur uns aber nicht.
... es ermöglicht hat, dass neue Konzepte und Wege entstehen.
... es den Turbo zugeschalten hat, für Themen wie Digitalisierung und Co, wo doch immer gepredigt wurde, das sei in manchen Bereichen nicht möglich.
... es uns gelernt hat, dass es tatsächlich eine höhere Macht gibt.
... es uns Grenzen aufgezeigt hat.
... es verdeutlicht hat, dass wir hier tatsächlich nur Gast sind.
... es treibende Kraft war, um Perspektiven zu ändern.
... es eindeutig gezeigt hat, dass die regionalen, lokale Shops unverzichtbar sind und am Ende des Tages dafür sorgen, dass wir Essen auf den Tisch (und WC-Papier am Klo) haben.
... es uns gezwungen hat, zu reflektieren, zu hinterfragen, sich bewusst zu werden und zu entscheiden, wie möchte ich leben.
… es uns nachhaltig beeinflusst (hat).
Möglicherweise empfinden einige diese Zeilen als Hohn, als eine sarkastische Geste. Jede Meinung hat ihre Berechtigung. Es ist meine persönliche Sicht, keine Besserwisserei, kein von Oben herab. Ich blicke auf 2020 im Guten zurück. Es hat mich an Stellen wachsen lassen, von denen ich 2021 profitieren werde. Es hat mir Erkenntnisse beschert und meine Resilienz positiv beeinflusst.
Ich bin der Meinung, Menschen die nur am Jammern sind, weil das Weltgeschehen, der Vorgesetzte oder was auch immer, sie ungerecht behandelt, verweigern die Sicht nach Innen, zum Ich zu richten. Sind nicht bereit die Perspektive zu wechseln. Das Jammern ist Ausdruck eines gekränkten Egos. Mi, mi, mi.
Als mittlerweile 38-jährige am Land lebende Single-Frau hätte ich tonnenweise Gründe um zu Jammern. Möchte ich aber nicht, dafür ist mir meine (Lebens-)Zeit zu schade. Ich habe mich entschieden, die Hürden, Herausforderungen und die im Weg liegenden Steine als Chancen und Kreuzungspunkte mit Botschaft zu sehen. Es ist wie bei Super Mario damals am GameBoy: mit jedem geschafften Level geht es weiter. Am Weg von Level zu Level, kriegst du die Tools dafür in die Hand. Dein Endgegner ist am Ende immer das Ego.
Eine Passage, in einer Kolumne von Carmen Schnitzer im Yoga Journal 73/2020, hat es für mich auf den Punkt gebracht:
Die Zukunft, die ich mir ausgemalt hatte,
ist nie Gegenwart geworden.
Die Vergangenheit, in der andere Entscheidungen mich womöglich zu einem Kind geführt hätten, kann ich nicht mehr ändern.
Die Passage mit dem Kind kann jeder für sich beliebig ersetzen. Fakt ist, dass ich dankbar bin, dass meine von mir als Twen ausgemalte Zukunft nicht Gegenwart geworden ist. Klingt harsch und ich wohl sehr rational. Aber ich fühle aus tiefsten Herzen no regrets aber zutiefst Dankbarkeit für den Verlauf meines bisherigen Weges. Und somit schließe ich an dieser Stelle mit Zeilen von Joseph Campbell, die für mein Dasein den Nagel auf den Kopf treffen:
Du musst das Leben,
das du geplant hast, aufgeben,
damit du das Leben führen kannst,
das auf dich wartet.
Und damit genug Küchentischweisheit und raus in die gute Tiroler Luft - und den Schnee.